Veranstaltung: | Delegiertenkonferenz der EJiR am 28. und 29. September 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | 3.2.1. Antrag A1 (Vorstand): Friedensarbeit (in) der Evangelischen Jugend im Rheinland |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Vorstand der EJiR |
Antragshistorie: | Version 5 |
Friedensarbeit (in) der Evangelischen Jugend im Rheinland
Titel
Beschlusstext
Die Delegiertenkonferenz möge beschließen:
Die EJiR bekräftigt ihren Beschluss zur Friedensarbeit vom September 2023
insbesondere in Hinblick auf die Verurteilung des Ukrainekrieges als
völerrechtswidrigen, russischen Angriffskrieg und in Hinblick auf das Bekenntnis
zum Völkerrecht. Sie sieht sich dazu herausgefordert, einer friedensethischen
und friedenspolitischen Haltung Raum zu geben, die die Dialogbereitschaft in der
Gesellschaft fördert, einen Austausch auch zwischen scheinbar unvereinbaren
Positionen ermöglicht und damit zu einer Kultur des Friedens und der
Gewaltfreiheit beiträgt.
Vor dem Hintergrund multipler Krisen und Bedrohungen in Europa und der Welt
nimmt die EJiR die Sorgen und Ängste insbesondere der jungen Generation, die von
den Folgen heutigen Handelns besonders betroffen sind, sehr ernst. Insoweit
könnten junge Christ*innen aufgrund ihres Glaubens in Gewissenskonflikte
geraten.
Im Verlauf des Dialogprozesses haben wir erkannt, dass wir zum jetzigen
Zeitpunkt nicht in der Lage sind, eine einheitliche und klare Position zu
einzelnen politischen Maßnahmen im Ukraine-Krieg zu beziehen. Vielmehr verstehen
wir den Jugendverband als lernende Gemeinschaft und als Raum für freie Diskurse,
wo Platz für Meinungsbildung und Meinungsänderungen ist. In diesem Diskurs kann
sich jede*r frei äußern. Eine die Person wertschätzende Haltung und deutliche
inhaltliche Differenzen schließen sich nicht aus. Vorurteile und vorschnelle
Generalisierungen erschweren den Dialog.
Die EJiR fordert ihre Mitglieder dazu auf, entsprechende Bildungs- und
Dialogveranstaltungen durchzuführen, sich mit bereits bestehenden Initiativen
innerhalb und außerhalb des Jugendverbandes auseinanderzusetzen und
gegebenenfalls mit ihnen zu kooperieren.
Die Initiative ‚Sicherheit neu denken‘ kann eine mögliche Gesprächspartnerin
sein, deren Positionen wir uns jedoch nicht zu eigen machen. Dennoch ist ein
kritischer Diskurs möglich. Wir verstehen sie als eine Gruppe, die Lösungen
jenseits militärischer Optionen sucht, Positionen entwickelt und diese in den
friedens- und sicherheitspolitischen Diskurs einbringt.
Das Netzwerk ‚Peace for Future‘ trägt in seiner jetzigen Form zum Dialog und zur
Friedenskultur untermaßgeblicher Mitwirkung von Kindern, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen bei. Aus dem Dialogprozess heraus zeigt sich, dass eine
Zusammenarbeit der EJiR und Peace for future gewinnbringend für beide Seiten
sein kann. Die EJiR ruft ihre Mitglieder dazu auf, an den verschiedenen
Veranstaltungsformaten des Netzwerks aktiv mitzuwirken. Konkret wollen wir
zusammen eine Dialog-Veranstaltung im Jahr 2025 durchführen und prüfen, wie wir
eine Jahrestagung von Peace for future inhaltlich sowie organisatorisch
unterstützen können.
Begründung
A. Hintergrund (ggf. für neue Delegierte relevant):
Im März 2022 positionierte sich die EJiR erstmals zum Ukraine-Krieg, der auf Putins Befehl hin seit nun schon über zweieinhalb Jahren Leid und Schrecken verursacht. In ihrem Beschluss vom 13.03.2022 verurteilte die DK die russische Aggression als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg scharf und zeigte sich solidarisch mit den Ukrainern. Sie erkannte den Krieg als „unvergleichliche Verletzung und Bedrohung der als sicher gewähnten Friedensordnung“, lobte die Versuche von Teilen der russischen Bevölkerung, sich dem Verhalten Putins entgegenzustellen, wies auf die Gefahren einer möglichen (nuklearen) Eskalation hin und warnte vor den humanitären Folgen des Krieges. Auf eine konkrete Positionierung zu aufkommenden Fragen, wie einem deutschen - auch militärischen - Beitrag zur Verteidigung der ukrainischen Souveränität, dem deutschen „Sondervermögen Bundeswehr“, einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht o.ä., einigte sich die DK auch in ihrem Beschluss vom 12.03.2023 nicht. Dort allerdings gestand sich die EJiR eine gewisse „friedensethische Orientierungslosigkeit und friedenspraktische Hilflosigkeit“ ein. In diesem Rahmen war die EJiR zu einer Reihe von Überzeugungen gelangt, darunter „die Notwendigkeit [sich] friedenspolitisch zu engagierten, indem [sie sich] an Projekten der Abrüstungs- und Friedensbewegung beteiligt, z.B.: [...] der Initiative Sicherheit Neu Denken“ oder auch „die Kooperation mit Peace4furture (Jugendprojekt der Initiative Sicherheit neu Denken)“ auszubauen. Dieser Antrag, insbesondere die Kooperation mit der Initiative Sicherheit Neu Denken (SND) und Peace4future (P4f), war seinerzeit umstritten, wurde jedoch letztendlich mit großer Mehrheit beschlossen. Bei der Frühjahrs-DK 2024 wurde in Form eines Antrags (s. Link unten) Kritik insb. an der Initiative SND laut. Befürworter und Gegner entschieden gemeinsam, der DK eine Prüfung der Initiative und zu diesem Zwecke einen Austausch vorzuschlagen. Ein entsprechender Antrag wurde angenommen. In diesem Rahmen fanden im Juni 2024 drei Videokonferenzen statt, zu denen alle interessierten Delegierten sowie jeweils unterschiedliche Gäste geladen waren. Dieses Dialogformat kann als konsequente Weiterführung der geforderten „Neuorientierung“ verstanden werden.
B. Erstes Online Treffen
I. Allgemeines
Montag, den 03.06.2024, fand das erste online Treffen des „Dialogformats Frieden“ statt. Dieses diente vor allem der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Initiative SND. Als Vertreter der Initiative war Ralf Becker (Koordinator von SND) anwesend. Während der ersten halben Stunde des zweistündigen Treffens stellte Herr Becker die Initiative vor. Dabei setzte er SND in einen Kontext zum christlichen Glauben, zur Position der evangelischen Kirche der letzten Jahre, der Geschichte seit dem Kalten Krieg, zum Ukraine-Krieg und zu langfristigen Perspektiven und Zukunftskonzepten der Initiative. Anschließend folgte ein Austausch.
Ich persönlich habe diesen als außerordentlich konstruktiv, sachlich und gewinnbringend empfunden. Auch wenn nicht Zeit für alle Fragen war, konnten sich die Anwesenden ein klares Bild von SND machen. Dabei zeigte sich mir v.a., dass das vordergründige Ziel der Initiative im Entwickeln einer Vision – nämlich von einer friedlichen Welt – und in der Skizzierung eines entsprechenden Weges dorthin liegt. Das kann ich nur begrüßen. Dies scheint schwierig mit dem Ukraine-Krieg übereinzubringen. Umso wichtiger ist ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft. Aber nicht nur in dieser bloßen Analyse, sondern auch in weiteren, wesentlichen Punkten stimmten Herr Becker und ich grundsätzlich überein.
Wesentliche Ergebnisse der Präsentation von Herrn Becker und des Austausches über vorgebrachte Kritikpunkte und Fragen möchte ich im Folgenden aus meiner Perspektive zusammenfassen und bewerten. Über die ersten Entwürfe dieses Kommentars habe ich mich mit Herrn Becker kurz schriftlich ausgetauscht. Seine Anmerkungen fließen ebenfalls in diesen Kommentar ein. Aus dem Gespräch ergab sich u.a. Folgendes:
II. Selbstverteidigungsrecht, Waffenlieferungen, diplomatische Verhandlungsversuche
Herr Becker bekräftigte das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und auch das (militärische) Unterstützungsrecht der anderen Nationen. Demgegenüber bleibt für mich unerklärlich, wie es zu mindestens ungünstigen Formulierungen, wie „fraglich ist, ob das [gemeint sind militärische Unterstützung und Selbstverteidigung] noch zielführend und verhältnismäßig [sind]“, kommen konnte (vgl. hierzu Antragsbegründung vom 10.03.2024 IV. 3. Abs. 1 – 3). Konträr dazu erwägt Herr Becker im Gespräch sogar, dass Waffenlieferungen und entsprechende Nachproduktion aufgrund der gegenwärtigen Umstände notwendig sein könnten. Diese Ehrlichkeit und realpolitische Sichtweise begrüße ich sehr. Eine solche Unterstützung der Ukraine müsse allerdings gleichzeitig mit einem diplomatischen Abrüstungsangebot einhergehen. Hier solle der Westen erste Schritte machen. Klar ist für Herrn Becker aber auch: Eine Abrüstung könne nur auf Gegenseitigkeit beruhen. Den ersten Schritt zu machen heißt also nicht, dass Europa mit einer Abrüstung beginnt, während Russland weiter aufrüstet. Entsprechende Angebote und die Unterstützung der Ukraine müssen sich – davon sind wir beide überzeugt – nicht ausschließen.
Diese Haltung zu Waffenlieferungen und Verteidigung kann man durchaus in die Impulspapiere der Initiative hineinlesen. Doch nach meiner Auffassung stellt SND in ihren Impulspapieren Abrüstung und starke Vorbehalte gegenüber Waffenlieferungen deutlich in den Vordergrund. Hier wünsche ich mir ein klareres Bekenntnis der Initiative, anstatt seitenweise von Abrüstung und Diplomatie zu reden, während man sich an den wenigen Stellen, die konkret die Unterstützung der Ukraine thematisieren, in Konjunktive, offene Fragen und ratloses Zweifeln flüchtet. Jedoch erkenne ich an, dass es in diesem Bereich schwierig ist einen Kompromiss zu finden, mit dem sich jeder zufrieden erklären kann. Soweit Waffenlieferungen oder eine kurzfristige Aufrüstung pauschal von Teilen der Initiative abgelehnt werden, besteht die diesbezügliche Kritik weiterhin (vgl. insb. die Antragsbegründung vom 10.03.2024 I. 1., III. 5. Abs. 1 – 5, 7.).
Im Austausch zum ersten Entwurf dieses Kommentars versicherte Herr Becker zudem, dass SND der Ansicht sei, der Westen dürfe die Ukraine nicht zur Kapitulation zwingen. Friedensverhandlungen seien – da stimmen wir überein – nicht mit einer Kapitulation gleichzusetzen. Seine Einschätzung, dass die Ukraine für die derzeit besetzten Gebiete wohl höchstens eine Teil-Souveränität zurückerlangen wird, ob nun auf militärischem Wege oder durch Verhandlungen, teile ich.
III. UN-Reform
Weiter stimmten wir überein, dass es zur Wahrung des Friedens idealerweise eine reformierte, demokratisierte UN braucht, in der die Veto-Mächte des Sicherheitsrates ihre Privilegien abgeben.
IV. Gescheiterte Friedensverhandlungen
In der Retroperspektive muss ich Herrn Becker zustimmen, dass die Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland zu Beginn des Krieges wohl auch oder sogar maßgeblich an fehlenden Sicherheitsgarantien des Westens gescheitert sind. Im Gespräch habe ich Zweifel an dieser begründeten These geäußert. Dabei sollte der Preis dieser Friedensverhandlungen, nämlich die umfangreichen Forderungen Russlands, nicht vergessen werden. Demnach hätte die Ukraine für das Erreichen eines Friedensvertrags insoweit entmilitarisiert werden müssen, dass sie im Falle eines weiteren russischen Angriffs nicht verteidigungsfähig gewesen wäre. Aufgrund der im etwaigen Friedensvertrag vom Westen gegebenen Sicherheitsgarantien, hätte der Westen daraufhin in einen direkten militärischen Konflikt mit Russland gezogen werden können, bei dem sich amerikanische und russische Soldaten gegenüber gestanden hätten. Insoweit kann ich das Zögern des Westens vor einer solchen Eskalation durchaus nachvollziehen, jedoch nicht befürworten.
V. Ziviler Widerstand in Bezug auf die Ukraine, Chenoweth-Studie
Ein für mich wesentlicher, vorgebrachter Kritikpunkt lautete: In Impulspapier Nr. 2, das schwerpunktmäßig vom Ukraine-Krieg handelt, in Kapitel 6, wo es um konkrete Handlungsoptionen u.a. Seitens der NATO zur Deeskalation des Krieges geht, schreibt SND auf S. 20 in Abs. 3:
„Natürlich hat die Ukraine das Recht zur Selbstverteidigung mit Gewalt. Eine gewaltsame Verteidigung ist nach wissenschaftlichen Erkenntnissen allerdings regelmäßig mit weit höheren menschlichen Kosten verbunden als – wissenschaftlich nachgewiesen - gleich wirksame zivile Verteidigung.“ Ähnliches behauptet die Initiative über vier Seiten unter der Überschrift „Optionen aktiven zivilen Widerstands“ ebenfalls in Impulspapier Nr. 2. Zudem zitiere ich in meiner Antragsbegründung vom 10.03.2024 unter VI. [1] die Initiative bereits ähnlich aus ihrem Impulspapier Nr. 4, S. 33.
Die zitierte Aussage ist in Bezug auf die Ukraine schlicht falsch. Als Quelle wird die von der Initiative immer wieder zitierte Chenoweth-Studie herangezogen. Den Machern der Studie ging es um den Nachweis der Wirksamkeit von Zivilem Widerstand. Die untersuchten Daten stammten v.a. aus innerstaatlichen (auch militärischen) Konflikten, die i.d.R. aus der Unterdrückung der Bevölkerung durch Terroristen, Warlords oder Diktatoren resultierten, wie im sog. globalen Süden regelmäßig der Fall. Dabei kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass Ziviler Widerstand der Bevölkerung statistisch gesehen doppelt so erfolgreich ist wie militärischer Widerstand, um eine Befreiung nach bereits erfolgter militärischer oder anderweitiger Okkupation sowie von Diktatoren zu erreichen. Das Eingreifen von außen etwa durch westliche Staaten ist für Stabilität und Frieden in den Regionen zumeist nicht förderlich. Allerdings liefert diese Studie keine belastbaren Informationen im Hinblick auf einen Angriffskrieg eines souveränen Staates gegen einen anderen Staat. Dieser Anspruch wird seitens der Studie auch nicht gestellt. Insoweit sind die vorstehende Behauptung der Initiative und ihre Ausführungen dazu auf den benannten Seiten mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die Behauptung, es handle sich dabei um eine wissenschaftlich belegte Aussage, ist mindestens fahrlässig irreführend. Nach dem persönlichen Gespräch mit Herrn Becker ist es für mich unvorstellbar, dass die Initiative bewusst irreführen wollte. Es bleibt dennoch ein ungutes Gefühl.
Diese Kritik nahm Herr Becker an und bedauerte etwaige Missverständnisse. Herr Becker schilderte im Austausch zum ersten Entwurf diesen Kommentars, dass er sich beim nächsten Treffen des Koordinierungskreises für eine Klarstellung auf der Internetseite von SND in folgendem Wortlaut einsetzen werde: „Die im Kapitel 6 dieses Impulspapiers formulierte Wirksamkeit rein ziviler Verteidigung ist zu verstehen und belegt im Sinne langfristiger Befreiung annektierter Gebiete, nicht im Sinne kurzfristiger Verteidigung bei einem massivem militärischem Angriff. Wir sind überzeugt davon, dass eine auf Kooperation und gegenseitig kontrollierte militärische Abrüstung ausgerichtete Sicherheitspolitik langfristig am wirksamsten gegen militärische Angriffe schützt.“ Dieses Statement ist auf der Internetseite im vorstehenden Wortlaut wie angekündigt erschienen.
Anhand dieses konkreten Beispiels wird anschaulich, dass es sich bei SND und den Verfassern der Impulspapiere um eine diverse Gruppe handelt, wo Entscheidungen durch Mehrheiten aber nicht immer einstimmig getroffen werden. Es scheint mir wichtig festzuhalten, dass ich das als Stärke bezeichnen würde. Nach dem Gespräch mit Herrn Becker habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Initiative mit Augenmaß und Sorgfalt ihre Formulierungen abwägt und dazu auch schwierige Kompromisse eingeht. Dabei scheint sie offen für die Meinung Außenstehender und diskursbreit. Inwieweit andere Vertreter der Initiative die Kritik der vier vorstehenden Absätze annehmen, zumal es offensichtlich eine Mehrheit für diese und ähnliche Formulierungen gegeben haben muss, kann ich nicht einschätzen.
VI. Bewertung geschichtlicher Ereignisse, Unberechtigte Sicherheitsinteressen Russlands
Was die historische Betrachtung angeht (vor allem die Zeit nach dem Kalten Krieg), komme ich zu dem Schluss, dass man die Geschichte wohl auf vielfältige Weise, gut begründet, sehr unterschiedlich bewerten kann. In ihren Impulspapieren kritisieren die Verfasser mehrfach das Ausbleiben einer Ratifizierung des AKSE-Vertrags seitens der NATO-Staaten. Auf diesbezügliche Kritik meinerseits, dass der Kontext dieser Entscheidung, nämlich die (teils nachvollziehbaren) Gründe für diese Entscheidung und das anschließende Aufkündigen des Vorgängervertrags (KSE-Vertrag) seitens Russland, in der Darstellung von SND fehle, entgegnete Herr Becker, dass eine vollumfängliche Darstellung den Rahmen der Impulspapiere sprengen würde. Das ist natürlich richtig und dennoch bedauerlich. In ähnlicher Weise fehlt es meiner Meinung nach am notwendigen Kontext bei der Behauptung, die EU habe die Ukraine 2013 unter Druck gesetzt (vgl. Antragsbegründung vom 10.03.2024 III. 6.)
Ich habe weiterhin den Eindruck, dass die Verfehlungen des Westens in den Impulspapieren überhöht dargestellt werden. Ich schätze den westlichen Anteil an der Eskalation seit Ende des Kalten Kriegs vermutlich geringer ein, als in den Impulspapieren suggeriert. Auch bleibe ich bei meiner Einschätzung, dass die russischen Sicherheitsinteressen insoweit unberechtigte Interessen darstellen, dass es jedem Staat freisteht, sich einem militärischen Verteidigungsbündnis anzuschließen. Derartige Interessen zu beachten, halte ich grundsätzlich für falsch (zur diesbezüglichen Begründung vgl. Antragsbegründung vom 10.03.2024 III. 5. Abs. 6 ff.). Dennoch kommen wir überein, dass es für einen ehrlichen, diplomatischen Austausch dienlich wäre, wenn sich der Westen öffentlich zu seinen Verfehlungen bekennen würde.
Herr Becker erklärte im Austausch zum ersten Entwurf dieses Kommentars, dass SND die Einschätzung, dass sich Russland (aber auch andere mächtige Staaten) regelmäßig aus unberechtigten Interessen heraus nehmen, was sie wollen, teilt. Diese unberechtigten Interessen nicht zu beachten hält er für eine Form „internationaler Gestaltung unserer Welt[, die] eher Wunschdenken als Realität ist“. Insoweit suche SND nach realpolitischen „Friedensperspektiven in Anerkennung dessen, was ist“.
Dem möchte ich ganz grundsätzlich – ohne Diskussionen um konkrete Beispiele zu beginnen – entgegenhalten, dass die USA und die EU meiner Ansicht nach ihre Machtpositionen nutzen können und müssen, um die Realität, in der sich die Mächtigen nehmen, was sie wollen, zu ändern – und das auch unter Inkaufnahme kalkulierter Risiken. Das muss auch beinhalten, den unberechtigten Interessen Russlands eine Absage zu erteilen, soweit möglich. Zur traurigen Wahrheit gehört aber auch, dass der Westen in seiner Vergangenheit nicht immer diese Rolle als Anwalt der schwachen Staaten spielte, sondern mehrfach seine eigenen Interessen über die regelbasierte Ordnung stellte. Diesen Widerspruch zwischen vergangenen Verfehlungen und der jetzigen Ukraine-Situation gilt es aber auszuhalten.
Hierauf erwidert Herr Becker schriftlich: „Um Russland und China kritisieren und deren hegemoniales Verhalten verändern zu können, braucht es zuerst eine dem entsprechende Verhaltungsänderung der USA, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Nur dann werden wir auf andere wirksamen Einfluss nehmen können, wenn wir im eigenen Haus, bei unseren eigenen Verbündeten auch Risiken in der internen Auseinandersetzung und Freundschaft wagen."
Dem kann ich nur beipflichten. Ich würde die (europäischen) Ukraine-Hilfen, die Souveränität der Ukraine und in letzter Konsequenz die Verteidigung des Völkerrechts allerdings nicht durch eine Verhaltensänderung der USA bedingen. Zudem gilt es zu bedenken, dass ein freiwilliges Abtreten erheblicher Teile des Einflusses der USA mit einem Machtgewinn Chinas einherginge, was die Konfliktsituation im Südchinesischen Meer, die Abhängigkeit Afrikas von China und nicht zuletzt Russlands Kalkül stärken dürfte. Eine Neugestaltung der internationalen Ordnung muss daher mit Garantien seitens China einhergehen, dass sich die Volksrepublik nicht unverhältnismäßig an freiwilligen Machteinbußen der USA bereichert.
VII. SND als europäische Vision
Gegen Ende des Gesprächs wies Herr Becker darauf hin, dass die Initiative eine „Europäisierung“ ihres Modells erwägt. Diesen Vorschlag befürworte ich stark. Einer meiner größten Kritikpunkte bestand darin, dass es unsolidarisch wäre, selber abzurüsten, während man sich auf die Verteidigung durch andere NATO-Partner verlässt. Soweit sich Deutschland aber als Vorreiter versteht, der sein Verhalten mit seinen europäischen Partnern abspricht und dieser Prozess ganz Europa umfasst, erübrigt sich diesbezügliche Kritik (vgl. Antragsbegründung vom 10.03.2024 I. 2.). Natürlich nur so lange, wie Russland (und China?) mitziehen.
Hierzu ergänzt Herr Becker im Austausch zum ersten Entwurf dieses Kommentars schriftlich: „[A]uch bereits unser Positiv-Szenario von 2018 [hatte] die Interessen unser (ost-) europäischen Partner klar und stark mit im Blick […] - und [das Positiv-Szenario von 2018 sieht/sah] genau aus diesem Grund Verhandlungen mit Russland über eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa erst ab 2025 [vor], da wir mindestens fünf Jahre einkalkuliert haben, die vorher zur Aushandlung einer gemeinsamen Position mit unseren (ost-)europäischen Partnern notwendig wären, genau um diese keinesfalls zu übergehen. […] Auch haben wir unser Szenario von Beginn an stets als Einladung verstanden (und dies im Vorwort auch explizit so formuliert), dass andere europäische Staaten ähnliche eigene Szenarien aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus entwickeln - und wir dann auf Grundlage dieser (sicher sich unterscheidenden) Szenarien miteinander ins Gespräch und bestenfalls zu einem gemeinsamen europäischen Szenario kommen. Dieser Prozess hat inzwischen tatsächlich eingesetzt und wir sind mit Zivilgesellschaften und Kirchen in anderen europäischen Ländern seit Jahren im Austausch dazu. Dieser Austausch kann, soll und wird sich jetzt intensivieren.“
Hierzu erkenne ich an, dass ich mich offenbar nicht ausreichend zur Abstimmungsbereitschaft von SND mit anderen europäischen Staaten informiert habe, dies aber auch nicht schwerpunktmäßig aus den Impulspapieren hervorgeht. Soweit eine europäische Einigung scheitert, lehne ich ein eigenständiges Abrüsten Deutschlands ohne Zustimmung seiner Partner ab.
Darauf erklärt Herr Becker schriftlich, dass SND ein eigenständiges Abrüsten seitens Deutschland ohne Zustimmung seiner europäischen und NATO-Partner ebenfalls ablehnt. Weiter schreibt er: „In unserem Positiv-Szenario haben wir den dazu notwendigen innerpartnerschaftlichen Dialog als den schwierigsten Teil zur Realisierung unseres Positiv-Szenarios angesehen - und dementsprechend eine Zustimmung unserer NATO-Partner in den Meilensteinen erst für das Jahr 2037 angesetzt.“
VIII. Ausgehende Zeit
Leider blieb gegen Ende keine Zeit mehr Fragen zur Finanzierung der Forderungen der Initiative zu stellen, die den Rüstungsetat des Bundeshaushalts aus 2023 um mehrere Duzend Milliarden Euro überschreiten (vgl. Impulspapier Nr. 1 S. 36 – 38). Auch blieb leider keine Zeit näher zu erörtern, wie sich die Initiative einen gewaltfreien Ausgang des Zweiten Weltkriegs vorstellt. Dass dies möglich gewesen wäre, hatte die Initiative nach meinem Antrag vom 10.03.2024 ihren FAQ hinzugefügt (vgl. Internetseite von SND am 24.07.2024 / FAQ / Frage 13 / Abs. 5; Antragsbegründung vom 10.03.2024 III. 4. Abs. 2 ff.). Dort argumentiert sie, dass die Shoah ja erst im Schatten des zweiten Weltkriegs hätte stattfinden können. Wie dieser aber ohne unser heutiges Wissen hätte verhindert werden sollen, konnte ich den veränderten FAQ nicht entnehmen.
IX. Weitere Änderung in FAQ
Die Aussage aus den FAQ „Wer sollte uns auf diese Weise angreifen? Russland […]? Das ist absolut unrealistisch.“ wurde nach meinem Antrag auf der letzten DK geändert (vgl. Antragsbegründung vom 10.03.2024 II. 1.). Das begrüße ich sehr.
X. Diskussionsbereitschaft, weiterer Austausch
Mein neugewonnener Eindruck von der Initiative als offene, kompromiss- und vor allem diskursbereite Organisation wurde nochmals durch ihr Angebot, über die kommenden Impulspapiere im konstruktiven Austausch zu bleiben (was ich dankend angenommen habe) bestärkt. Außerdem lädt SND zur Erhöhung der Qualität ihrer Impulspapiere explizit zu einer aktiven Mitwirkung seitens (weiterer) interessierter EKiR/EJiR-Jugenddelegierter ein.
C. Der vorliegende Antrag
I. SND im Antrag
Nach all diesen klaren und auch teils harten Worten bleibt die Frage, wie ich zu dem vorliegenden Antrag stehe:
Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sich wesentliche Teile meiner Kritik auf dem begründeten Verdacht, dass die Initiative Waffenlieferungen, das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und das Prinzip der Abschreckung auch in der gegenwärtigen Situation pauschal ablehnt, gründet. Das hat sich im Gespräch mit Herrn Becker in dieser Deutlichkeit nicht bestätigt. Mein Verdacht, dass diese Haltung – ggf. etwas differenzierter – auf Teile der Verfasser der Impulspapiere zutrifft, bleibt bestehen. Bei Fragen der Geschichte und handlungsleitenden Sicherheitsinteressen gehen die Meinungen wohl weiterhin teilweise auseinander und v.a. das Vermischen von Wunsch und wissenschaftlich bewiesener Wirklichkeit sehe ich kritisch.
ABER: Trotz inhaltlicher Widersprüche muss das zentrale Ergebnis dieses Gesprächs lauten: SND ist ganz offenbar außerordentlich kompromiss- und v.a. diskussionsbereit. Insoweit muss ich meine Haltung gegenüber SND korrigieren. Auch wenn ich den Eindruck habe, in den Impulspapieren nicht immer einen Differenzierungsgrad zu finden, der Herrn Beckers Ansichten gerecht wird, so muss ich doch sagen, dass ich die Impulspapiere nun aus einer anderen Perspektive lese. Ich kann sie nun besser einordnen. Unter Einbeziehung der neugewonnen Eindrücke würde ich die Antragsbegründung vom 10.03.2024 stellenweise nicht mehr derart pointiert schreiben, wobei die Kritik im Wesentlichen bestehen bleibt. Schließlich können Herrn Beckers Aussagen alleine nicht über Formulierungen, Schwerpunktsetzungen und Ungenauigkeiten aus den Impulspapieren, die in der Initiative offenbar mehrheitsfähig waren, hinwegtäuschen. Dennoch möchte ich für etwaige (v.a. sprachliche) Übertreibungen um Entschuldigung bitten.
Im Allgemeinen sehe ich vielversprechende Anknüpfungspunkte für einen konstruktiven Austausch zwischen EJiR und SND. Und genau das ist es, was aus dem nun vorliegenden Antrag hervorgeht. Die Initiative wird hier als „Gesprächspartnerin“ bzw. als „Ort, an dem vielfältige Perspektiven zum friedens- und sicherheitspolitischen Denken und Handeln jenseits der ausschließlich militärischen Positionen entwickelt, kritisch überprüft und erprobt werden können“ bezeichnet. Dies deckt sich mit meinem neu gewonnen Eindruck. Dabei übernimmt die EJiR auch nicht die inhaltlichen Positionen von SND. Insoweit kann ich bei aller Kritik an SND diesen Teil des Antrags mittragen.
II. Die Rolle der EJiR im Antrag
In dem Antrag begreift sich die EJiR als freier Debatten-„Raum“ zur Meinungsäußerung. Sie nimmt außerdem die Sorgen v.a. junger Christ*innen ernst. Eine Verurteilung des Krieges als völkerrechtswidriger Angriffskrieg erübrigt sich, da eine solche seitens der DK bereits vor über zwei Jahren vorgenommen wurde. Ich verstehe, dass es für langjährige Mitglieder der kirchlich geprägten Abrüstungsbewegung schwierig und ernüchternd sein muss, wenn sich die EJiR eben nicht klar gegen Waffenlieferungen etc. positioniert. Insoweit danke ich hier für die Kompromissbereitschaft. Ich denke, dass es bei einem solch streitigen Thema, bei dem es nicht die eine richtige Antwort gibt, nicht die Aufgabe der Kirche ist, klar Position zu beziehen. Kirche (und auch die EJiR) ist ein Ort für jede*n. Wir haben die Aufgabe Bildungsangebote zu schaffen, Impulse zu geben und theologische Orientierung zu bieten. Auch das findet sich in dem Antrag wieder. Das Dialogformat ist ein Paradebeispiel dafür, wie genau das – ein respektvoller Austausch – funktionieren kann. Bei aller Kritik kann ich klar sagen, dass sich nach meinem Eindruck die inhaltlichen Positionen angenähert haben, v.a. aber das Verständnis für die Meinung des Gegenübers gewachsen ist. Hier sehe ich die Kirche in der Pflicht so oder so ähnlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken bzw. wiederzuerwecken. Folglich kann ich diesen Teil des Antrags zur Rolle der EJiR vollständig mittragen.
III. P4f im Antrag
Was Peace4future angeht, zeigte sich während des zweiten Treffens, dass dieses nicht deckungsgleich mit SND ist. Hier liegt der Fokus auf Workshops, die besonderen Wert auf Konfliktlösungsstrategien im Privaten legen. P4f gibt in seinen Workshops keine politische Meinung vor, sondern liefert Impulse und lädt zur Diskussion ein. Insgesamt klang das Angebot von P4f sehr interessant. Ich kann mir eine Zusammenarbeit gut vorstellen, so wie es im Antrag auch nahegelegt wird. Für die Zukunft besteht die vage Idee, dass sich P4f zunehmend politisch engagieren könnte. Da diese Entwicklung noch nicht abzusehen ist, kann die EJiR dies auch noch nicht in ihre Bewertung mit einbeziehen. Diese Bedingtheit der Beurteilung von P4f findet Ausdruck in der Formulierung, dass P4f „in seiner jetzigen Form zum Dialog und zur Friedenskultur […] bei[trägt]“.
IV. Abschluss
Abschließend bleibt mir nur noch zu sagen, dass ich der DK nahelege, den vorliegenden Antrag in seiner jetzigen Form anzunehmen. Außerdem möchte ich mich ganz herzlich bei allen Beteiligten für ihre Zeit und Mühe während dieses ganzen – wenn man so will – zweieinhalbjährigen Prozesses bedanken. Nicht nur Claudius, Andreas und Daniel, sondern auch der Ausschuss Glauben und Leben, der Ausschuss für internationale, ökumenische und auf Nachhaltigkeit bezogene Jugendarbeit sowie die AG Friedensbildung haben mit ihren Anträgen daran mitgearbeitet. Dafür ein dickes fettes Danke <3
Zudem bedanke ich mich bei Herrn Becker, Frau Klaft (P4f) und den Teilnehmern aller Online-Meetings für den konstruktiven Austausch.
Ich wünsche uns allen eine friedliche Zukunft und eine gute Zeit bei der DK Ende September!
Fabian Eßer
Antrag und Antragsbegründung vom 10.03.2024: https://cloud.ejir.de/index.php/s/9ktmoZ3D4tpcNEC?dir=undefined&path=%2FDelegier-tenkonferenz%209.%20bis%2010.03.2024%2FEinladung%20und%20Unterlagen%2FAntr%C3%A4-ge&openfile=65579
Änderungsanträge
- Ä4 (Simon Löwenberg (KK An der Ruhr), Eingereicht)